- Stadtentwicklung: Das neue Bild der Stadt als Superorganismus
- Stadtentwicklung: Das neue Bild der Stadt als SuperorganismusBrasilia ist die zu Beton, Glas und Grünflächen erstarrte Vorstellung, Städte ließen sich ebenso am Reißbrett planen wie Maschinen. Nicht nur das Scheitern der »aus dem Boden gestampften« brasilianischen Hauptstadt, sondern der Blick auf die tatsächlichen Entwicklungen, die Städte rund um den Globus durchlaufen haben, zeigt, dass dieses mechanistische Verständnis von Stadtplanung viel zu kurz greift. Viel besser verständlich werden urbane Entwicklungsprozesse, wenn man die Stadt als System, als eine Art sich selbst schaffenden und verändernden Superorganismus begreift, der aktiv auf neue Anforderungen und Situationen reagiert. Im Licht dieses systemischen Verständnisses erweisen sich selbst Megastädte als erstaunlich robuste und wandelbare Gebilde.Der Mythos der PlanbarkeitStädte sind ein Symbol des Möglichen«, schrieb der amerikanische Technik- und Stadthistoriker Lewis Mumford Mitte des 20. Jahrhunderts, »ein Ort, um glückliche Zufälle zu multiplizieren und das meiste aus ungeplanten Möglichkeiten zu machen.« Lewis Mumfords Hinweis auf die ungeplanten, zufälligen Möglichkeiten steht in einem krassen Kontrast zu dem ebenfalls von ihm geprägten Begriff der »Megamaschine«: Diese Metapher legt nahe, eine Stadt sei prinzipiell ebenso konstruierbar — oder zumindest durchschaubar — wie eine große Maschine. Solche idealistischen Vorstellungen von der Planbarkeit urbaner Konstrukte spuken seit der griechischen Antike in den Köpfen der Macher herum.Millionenstädte sind jedoch weitaus mehr als technische Produkte und auch mehr als beliebig herstellbare Gebäude und Verkehrswege. Sie lassen sich nicht planen wie Kühlschränke oder Fabriken. Es handelt sich vielmehr um künstliche Ökosysteme, und zwar um die am höchsten entwickelten Lebensräume der mobilsten, erfinderischsten und verspieltesten Spezies, die dieser Planet hervorgebracht hat: Homo sapiens sapiens.Nimmt man diesen Systemgedanken ernst, so ist es kein Wunder, dass Städte auf dem Weg zur Größe des alten Roms, des viktorianischen Londons oder des heutigen Tokios eine unvorhersehbare Eigendynamik entwickeln. Diese durchkreuzt über kurz oder lang jede zentrale Planung und auch jedes noch so gut gemeinte städtebauliche Dogma — einschließlich der 1930 verabschiedeten »Charta von Athen«, die lange Zeit modernen Stadtplanern als Credo galt: die Forderung nämlich nach räumlicher Trennung von Wohnen und Arbeiten. Wer hätte seinerzeit geahnt, dass diese Trennung — gefordert, damit die Werktätigen samt ihrer Familien nicht auch noch im Qualm der Fabriken hausen müssen — kein halbes Jahrhundert später wegen des Autoverkehrs zu ausufernden Vorstädten, zersiedelten Landschaften, gigantischen Verkehrsstaus, pausenloser Lärmbelastung und zu noch mehr Luftverpestung führen würde?Traditionell denkende Stadtplaner — also solche, die das Banner der Planbarkeit noch hochhalten — müssten bereits angesichts der schieren Größe der Probleme in Depressionen sinken oder dem Zynismus verfallen. Nichts an den wuchernden Ballungsräumen der Dritten Welt gleicht den utopisch-idealistischen, weitläufig durchgrünten Architekturdenkmälern à la Brasilia. Selbst Manhattan mit seinem strengen Straßenraster und seinem weitläufigen Central Park wirkt dagegen wie eine Oase planerischer Vernunft.Vor allem Westeuropäern, die in wohl geordneten Kommunen ein relativ luxuriöses Leben führen, erscheinen die Probleme so gut wie unlösbar: Wer in aller Welt mag dieses explosive Gemisch entschärfen? Wo sonst als in einer Katastrophe kann dieses chaotische Durcheinander von Wolkenkratzern und Elendshütten enden, diese Parallelität von Wirtschaftsboom und schreiender Armut, dieses Nebeneinander von globaler Glitzerkultur und lokalem Latrinenmorast, diese Gleichzeitigkeit von Analphabetismus und Internet?Die Schwächen der Sicht von oben herabSo plausibel diese pessimistische Sicht auch erscheinen mag, sie ist mit einem gleichsam angeborenen Mangel behaftet: Es handelt sich um eine Sicht von oben herab — herablassend im sozialen Sinn, »top down« im Jargon der Systemforscher. Sie betrachtet Megastädte in der mechanistischen Tradition der industriellen Revolution als Maschinen. Maschinen, die — konsequent weitergedacht — offenbar nur deshalb außer Rand und Band geraten, weil sie jemand nicht richtig konstruiert hat oder weil niemand sie regelmäßig wartet. Aber: Wer hat London konstruiert oder Lagos oder Los Angeles?Die Maschinenmetapher hat sich mit dem Ticken der ersten mechanischen Uhrwerke tief ins westliche Denken eingegraben. So schrieb der amerikanische Technikhistoriker Lewis Mumford noch 1964 in seinem Buch »The Myth of the Machine«, schon die allerersten Städte im Nahen Osten hätten von Anfang an einer »archetypischen Maschine, konstruiert aus menschlichen Teilen« geglichen. Doch angesichts der urbanen Realität explosiv wachsender Metropolen zerschellt der Mythos der Plan- und Steuerbarkeit von Städten am Ende des 20. Jahrhunderts. Er erweist sich als Wunschdenken aus Zeiten, in denen autoritäre politische Eliten über vergleichsweise kleine und sich eher gemächlich entwickelnde Städte herrschten.Diese geruhsamen Zeiten sind längst vorbei. Dafür haben — Ironie der Geschichte — die Früchte der mechanistischen Ära gesorgt. Denn sie schoben die, wie Ökologen sagen, »limitierenden Faktoren« weiter hinaus, die das Wachstum der Menschheit bis dahin gedeckelt hatten, und lösten somit die anhaltende Bevölkerungsexplosion aus:(1) Die industrielle Revolution erschloss der Menschheit gewaltige, zuvor nicht zugängliche Energie- und Rohstoffquellen.(2) Der wissenschaftlich-technische Aufbruch der letzten 150 Jahre ermöglichte unter anderem enorme Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft und gewaltige medizinische Erfolge vor allem bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten.(3) Mechanisierung, Elektrifizierung und schließlich Elektronisierung ließen die globalen Verkehrs- und Kommunikationsnetze entstehen.Diese Entwicklungen wiederum beschleunigten vor allem eines: die weltweite Verstädterung und somit den Boom der Ballungsräume. Schließlich machten sie den wichtigsten Rohstoff menschlicher Kultur leichter verfügbar als je zuvor — Wissen. Etwa das Wissen, wo überlebenswichtige Ressourcen zu finden sind, und zwar auch in den Slums von Kalkutta. Oder das Wissen, wie sich Probleme lösen lassen, sogar in den Favelas von Sao Paulo. Oder das Wissen, was sich in dieser Welt tut, und zwar selbst in den hintersten Dörfern Anatoliens. Nicht zuletzt nationale und internationale Hilfsorganisationen fördern — aus guten Gründen — dieses Wissen gezielt. Schließlich setzt jede »Hilfe zur Selbsthilfe« das Vermitteln von Wissen voraus.Parallel zur Informationsvernetzung bis hinab in die Elendsquartiere und hinaus in die entlegensten Dörfer setzte bei den geistigen Eliten des Westens eine Revolution im wissenschaftlichen Denken ein. Sie ermöglicht grundlegend neue Einsichten auch in das dynamische Wachstum von Ballungsräumen. Was in der Quantenphysik bereits Anfang des Jahrhunderts anklang, gewinnt seit Mitte der 60er- Jahre des 20. Jahrhunderts mit Begriffen wie Chaos und Komplexität, Fraktale und Nichtlinearität, Synergetik, Emergenz und Selbstorganisation zusehends an Gewicht bei Mathematikern und Physikern, Biologen und Medizinern, Hirnforschern und Soziologen.Das Systemdenken kratzt am mechanistischen WeltbildIm Kern postulieren diese »Theorien komplexer Systeme« drei Dinge: Erstens ist die Entwicklung der Welt offen und somit letztlich nicht berechenbar. Zweitens ermöglicht diese prinzipielle Unvorhersehbarkeit das Hervorbringen — die »Emergenz« — neuer Qualitäten, weshalb drittens das so enstehende Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.Die Theorien komplexer Systeme eröffnen auch Stadtplanern und -forschern radikal neue Einsichten. Die schlechte Nachricht dabei: Im Licht dieses Ansatzes haben sie keine Chance, ein so komplexes System wie eine Millionenstadt zu planen und zu steuern wie eine Maschine. Die gute Botschaft: Das ist auch gar nicht nötig, da die einzelnen Subsysteme einer Stadt — Familien, Stadtviertel, Verkehrsbetriebe, Lebensmittelmärkte — innerhalb ihres jeweiligen »Horizonts« sich von selbst organisieren, wenn ihnen dazu der nötige Freiraum gegeben wird. Solche Subsysteme entwickeln sich, wie die beiden chilenischen Biologen und Pioniere der Selbstorganisationstheorie Francisco Varela und Humberto Maturana postuliert haben, weitgehend abgeschottet von ihrer Umwelt vor allem durch Reaktion auf interne Veränderungen — die beiden nennen dies »Autopoiese«.Hinter solch abstrakt-spröden Begriffen stehen zwei grundlegende Erkenntnisse: 1. Die Vielfalt und Komplexität des Lebens ist im Lauf der Evolution ohne vorgegebenes Ziel, nur durch Versuch und Irrtum entstanden. 2. Organismen und Populationen sind keine Marionetten ihrer Umwelt; sie sind vor allem mit sich selbst beschäftigt, schaffen sich ihre eigene, »innere« Welt und versuchen, diese zu erhalten. Dabei bewahren sie ihre Form nach Art einer stehenden Welle oder eines »Fließgleichgewichts«: Sie bleiben stabil, so lange Energie und Materie — und, im Fall sozialer Systeme, individuelle Organismen — in ausreichendem Maß durch sie hindurchströmen.Diese Umkehrung der traditionellen, von Idealismus und Hierarchien, Kausalzusammenhängen und Planbarkeit geprägten Sicht hat der 1998 verstorbene Soziologe Niklas Luhmann schon früh vollzogen. Für ihn sind gesellschaftliche Gruppen weder Rädchen in einem uhrwerkgleichen Mechanismus noch Teilsysteme kybernetischer Maschinen, die nur auf Außenreize reagieren. »Was eine Gruppe tut, ist nicht zwangsläufig eine vorhersagbare Reaktion auf die Umwelt«, postulierte Luhmann. »Soziale Systeme erhalten und entwickeln sich in ihrer Isolation, indem sie mit sich selbst beschäftigt sind.«Die Selbstorganisation sozialer Systeme, also auch der vielfältigen Bevölkerungsgruppen einer Megastadt, findet nach dieser Sichtweise in weitgehender Unabhängigkeit voneinander statt. Dieser Umstand würde auch erklären, warum es in ethnisch und sozial durcheinander gewürfelten Metropolen wie London und Bombay, New York und Sao Paulo möglich ist, dass bettelarme und superreiche, hell- und dunkelhäutige, orthodoxe und libertinöse Bevölkerungsgruppen meist relativ unbehelligt nebeneinander leben.Wie ein Heer von Egoisten Gemeinwohl schafftAber auch diese Einsicht kann letztlich nicht schlüssig erklären, warum Menschen sich in Riesenstädten zusammendrängen — und nicht etwa gleichmäßig übers Land verstreut wohnen. Ballungsräume müssen Vorteile bieten, die sich dem oberflächlichen, von Bildern des Elends und der Gewalt geblendeten Blick entziehen. Ihre Entwicklung scheint allem Anschein nach grundlegenden Prinzipien zu folgen, die wie mit unsichtbarer Hand das vermeintliche Chaos bändigen. Dies legt letztlich die Beobachtung nahe, dass selbst Megastädte im tropischen Armutsgürtel der Erde trotz Schwindel eregendem Wachstum und gigantischer Größe nicht zusammengebrochen — oder auseinander geflogen — sind.Die Idee der »unsichtbaren Hand« ist nicht neu. Der schottische Ökonom und Philosoph Adam Smith formulierte sie vor gut zwei Jahrhunderten, um damit die Funktionsweise der Marktwirtschaft zu erklären. Für Smith ist sie jene Kraft, die Eigennutz zu so etwas wie Gemeinwohl bündeln kann. Der österreichische Volkswirtschaftler und Nobelpreisträger Friedrich von Hayek hat Smiths Gedanken in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer modernen marktwirtschaftlichen Theorie erweitert. Sie beschreibt das Zusammenspiel in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der die produktiven und konsumptiven Aktivitäten ihrer Mitglieder auf mehr oder weniger koordinierte Weise erfolgen. Diese Koordination ist demnach nichts als ein unbeabsichtigter Nebeneffekt des eigennützigen Strebens der beteiligten Individuen.Eigentlich wäre schon zu Hayeks Zeiten der Gedanken nahe gelegen, mit dem Konzept der »unsichtbaren Hand« auch die Entwicklung der Städte zu erklären, denn urbane Zentren sind von Anbeginn vor allem eines: Märkte für Waren, Dienstleistungen und Ideen. Aber erst die »Karriere« des Begriffs Selbstorganisation in den Naturwissenschaften — vor allem in der Biologie — revolutionierte in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts auch die Stadtforschung.Ähnlichkeiten zwischen dem Gehirn und einer StadtDas neue Bild der Stadt vom sich selbst organisierenden Organismus scheint sich als fruchtbares Konzept zu erweisen. Es hat zum Beispiel den Neurowissenschaftler Wolf Singer angeregt, auf »weit reichende Ähnlichkeiten in der Organisation und Dynamik von Stadt und Gehirn« hinzuweisen. In einem Beitrag für das 1997 erschienene Buch »Virtual Cities« schreibt der Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt: »Beide Systeme bestehen aus einer Vielzahl eng miteinander verknüpfter Komponenten, die in hoch dynamischer Weise miteinander interagieren, und beide Systeme sind das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der im Wesentlichen auf Prinzipien der Selbstorganisation beruht.«Singer schlägt vor, »Städte als Kristallisationspunkte in der fraktalen Struktur von Gesellschaften« zu begreifen. Sie entstünden, »sobald die Populationsdichte eine kritische Schwelle überschreitet; sobald die Interaktionen zwischen Individuen einen Grad an Komplexität erreichen, der nur durch eine vorstrukturierte Kommunikationsarchitektur bewältigt werden kann.« Ähnlich wie das Gehirn, das aus Regionen, und diese wiederum aus Zellverbänden — neuronalen Ensembles —, besteht, wären »das Netz der Städte, die einzelne Stadt und die Untereinheiten einer Stadt somit als Komponenten eines informationsverarbeitenden Systems zu betrachten, das dazu dient, die Interaktionen innerhalb des Superorganismus Gesellschaft zu optimieren«.An die erste Stelle dieses Prozesses stellt Singer die Optimierung der Informationsflüsse, an zweite Stelle die Minimierung des Energieverbrauchs. Beides führt dazu, dass — und dies gilt im Hirn wie in der Stadt — Entfernungen verkürzt werden, sich also die Elemente verdichten. Problematisch an diesem Vergleich, so räumt der Wissenschaftler ein, ist die Art, wie unser Denkorgan seine Architektur optimiert: Während der Gehirnentwicklung werden nämlich jene Neuronen, die nicht optimal an die Ansprüche des Systems angepasst sind, rüde vernichtet — unter der Schädeldecke herrsche, so Singer, das »brutale System der Beseitigung des Fehlangepassten«.Menschen — das will auch der Hirnforscher nicht unterstellen — handeln jedoch nicht wie Nervenzellen. Sie haben, im Jargon der Chaosforschung, wesentlich höhere »Freiheitsgrade«: Sie sind also äußerst lernfähig und sehr mobil. Und sie haben vor allem einen — in der UN-Charta verbürgten — Anspruch auf Menschenwürde. Deshalb, räumt Singer ein, können die Kriterien für die Optimierung biologischer Systeme (etwa des Gehirns) und für menschliche Sozialsysteme (etwa der Städte) nicht identisch sein.Immerhin liegt jedoch der Gedanke nahe, dass bei menschlichen Sozialsystemen an die Stelle des brutal-darwinistischen Ausmerzens eine — mitunter kaum weniger brutale — Selektion ökonomischer Gruppen tritt: Manche Menschen werden wohlhabend, andere arbeitslos; manche Firmen reüssieren, andere gehen Pleite; manche Stadtviertel prosperieren, andere verkommen zu Slums.Wolf Singer hält es deshalb für nützlich, »einige Aspekte der Gehirnorganisation näher zu betrachten« und daraus Schlüsse für die Entwicklung von Städten zu ziehen. So müssen in der Großhirnrinde wie in Städten viele unterschiedliche Funktionen repräsentiert werden und zugleich flexibel kombinierbar sein. Zudem müssen beide Systeme das Kunststück vollbringen, diese multidimensionalen Anforderungen auf einer zweidimensionalen Fläche anzuordnen.»In der Hirnrinde«, erklärt Singer, »wird das Kartierungsproblem durch eine hochkomplexe Architektur ineinander verschachtelter Repräsentationen gelöst.« Das erfordere zwar »häufig Kompromisse, die zu interessanten Topologien führen«, also Anordnungen geometrischer Gebilde im Raum. Aber diese räumlichen Anordnungen »sind Ergebnis eines genialen Selbstorganisationsprozesses, dessen Regeln weitestgehend verstanden sind«. Die Vorgänge bei der Hirnentwicklung und auch beim Lernen im Erwachsenenalter laufen nach keinem Plan ab, der bestimmt, wie dies zu geschehen habe. »Tatsächlich gibt es gar keinen derartigen Plan, weder in den Genen noch sonst wo. Es gibt nur Regeln für lokale Interaktionen zwischen Komponenten: Das Endresultat des Entwicklungsprozesses wird erst klar, wenn er abgelaufen ist.« Kurz gesagt: Lokale Regeln erzeugen global geordnete Zustände.Wolf Singers Quintessenz daraus ist: »Wenn das auch für andere komplexe Systeme wie Städte zuträglich ist, sollten wir in Zukunft darauf verzichten, Städte als Ganzes zu planen, wie das für Brasilia versucht wurde.« Solche Ansätze könnten nur zu unbefriedigenden Lösungen führen. Besser wäre es, »auf die Vernunft der Selbstorganisation zu vertrauen«. Also: Gute Regeln für lokale Interaktionen finden, wirksame Lern- und Korrekturmechanismen zulassen, für wechselseitige Informationsflüsse sorgen, allgemein gültige rechtliche und ethische Kriterien für die Bewertung lokaler Aktionen festlegen sowie »auf zentralistische Koordinationsversuche« verzichten.Megastädte entwickeln sich aus urbanen GraswurzelnDer Rat der Chaos- und Hirnforscher ist mehr als graue Theorie. Die neuen Einsichten werden dringend benötigt, um gegenwärtige Fehlentwicklungen zu korrigieren und künftige möglichst zu vermeiden. Anzeichen eines Umdenkens sind bei Stadtplanern und Politikern inzwischen sogar auf internationaler Ebene spürbar. So deuten die Autoren des von den Vereinten Nationen mit herausgegebenen Bands »World Resources 1996—97: The Urban Environment« mit gewissem Optimismus Trends an, die auf eine Stärkung der kommunalen Selbstorganisation abzielen.Nahezu alle Maßnahmen, mit denen sich die sozialen und ökologischen Lebensbedingungen in den Städten verbessern lassen, so heißt es in dem Werk, erforderten eine »effektivere Stadtpolitik«. Diese bedinge allerdings »nicht nur verstärkte Verwaltungen, sondern auch die Einbindung vieler anderer Mitspieler des urbanen Geschehens — inklusive der Armen und der Privatwirtschaft«. Deshalb seien »auf lokalen Gemeinschaften aufbauende Ansätze« — der Fachterminus lautet »community based approaches« — »unentbehrlich, wenn städtische Leistungen jenen zugute kommen sollen, die sie brauchen, und wenn es zu einer allgemeinen Unterstützung für den erforderlichen Wandel der Strategien und Praktiken kommen soll«.Ohne einen solchen gleichsam den urbanen Graswurzeln entströmenden Wandel sehen die »World Resources«-Autoren keine Chance für eine Wende hin zu sozial und ökologisch »nachhaltigeren« — die Lebensgrundlagen dauerhaft bewahrenden — Praktiken. In den Metropolen der Dritten Welt bedeutet diese »community based strategy« zunächst, die dringendsten Maßnahmen zum Verbessern der Lebensverhältnisse und zugleich der städtischen Umwelt anzugehen.Lärm, Schmutz und KriminalitätFür Journalisten gibt es keine zuverlässigere Quelle schlechter — also: gut verkäuflicher — Nachrichten als Megastädte. Das Elend dieser Welt im Sekundentakt: Plünderungen in Jakarta, U-Bahn-Mord in New York, Straßenkinder in Moskau, Drogenkrieg in Bogota, Dreckluft in Delhi, Choleraausbruch in Lima, Streiks in Paris, Giftgasattentat in Tokio, Touristenmassaker in Kairo, Kaufhauseinsturz in Seoul, Rassenkrawalle in Los Angeles, Aufruhr in Kinshasa. Aus der Flut negativer Schlagzeilen lässt sich leicht eine durchweg düstere Gleichung ableiten: Armut plus Bevölkerungsexplosion plus Umweltverschmutzung plus Verkehrschaos plus Korruption plus Kriminalität ergeben den Untergang. Folgt man dieser Sicht, dann befinden sich die Riesenstädte auf einer unaufhaltsamen Fahrt zur Hölle. Unübersehbar ist der Schmutz, unüberhörbar der Lärm, unleugbar sind Armut und Kriminalität.Tatsache ist, dass die Bewohner von Ballungsräumen mit enormen Problemen zu kämpfen haben. So ergießt sich das Abwasser von Städten der Dritten Welt zu neun Zehnteln ungeklärt in die Umwelt. Im Jahr 1994 waren erst rund die Hälfte aller Städter in Afrika und Asien an die Kanalisation angeschlossen. In der philippinischen Hauptstadt Manila, wo das Gros der Abwässer der fast zehn Millionen Einwohner über zwei Flüsse in die Meeresbucht strömt, gingen die Fänge der Fischer zwischen 1975 und 1988 um 39 Prozent zurück. Garnelen aus der Bucht von Jakarta sind durch Abwässer aus den Industriebetrieben der indonesischen Hauptstadt fast so stark mit Quecksilber belastet wie einst die Meerestiere in der Bucht von Minamata. Sie war vor vier Jahrzehnten Schauplatz des größten japanischen Umweltskandals.An die Wasserversorgung war 1980 etwa ein Viertel der damals weltweit rund 900 Millionen Städter nicht angeschlossen; 1994 lebte die Hälfte der inzwischen auf etwa 1,7 Milliarden angeschwollenen urbanen Bevölkerung ohne Wasser- und Abwasseranschluss. Dabei nahm die Armut in den Städten Lateinamerikas, Afrikas und Osteuropas in den letzten Jahrzehnten eher zu, in den Metropolen Süd- und Südostasiens dagegen eher ab. In Lateinamerika stieg die Zahl der armen Stadtbewohner von 1970 bis 1990 von 44 auf 115 Millionen. Hauptursachen dafür sind die hohe Zuwanderung vom Land und hohe Geburtenraten.Die Armut trifft Frauen stärker, auch in den Städten: 70 Prozent der weltweit 1,3 Milliarden Armen sind nach Angaben der Vereinten Nationen weiblich. Nach deren Schätzung wird im Jahr 2000 in den Städten der Dritten Welt die Hälfte der Neugeborenen als Kinder armer Familien zur Welt kommen. Im Band »World Resources: The Urban Environment« heißt es: »In den Städten von Entwicklungsländern sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Einkommensgruppen oft extremer« als in den Metropolen der Industrieländer. Und weiter: »In vielen Fällen maskiert zum Beispiel eine allgemeine Verbesserung der städtischen Gesundheitsindikatoren einen sich öffnenden Spalt zwischen den Armen und Wohlhabenderen.« Die Probleme der urbanen Armen gleichen jenen der Besitzlosen auf dem Land: kein Trink- und Abwasseranschluss, kein menschenwürdiger Wohnraum — 30 bis 60 Prozent der Bevölkerung von Dritte-Welt-Städten lebt in unzureichenden Behausungen. Erschwerend hinzu kommen überfüllte Slums sowie die Belastung durch Industrieabwässer und verschmutze Luft.Die größten Slums liegen in den Megastädten Süd- und Südostasiens. In Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, lebt mehr als die Hälfte der acht Millionen Einwohner in Elendsquartieren. Trotz des teils kräftigen Wirtschaftswachstums wird sich daran so schnell nichts ändern: Im Hinterland von Bombay und Delhi, Kalkutta und Karatschi, Dhaka und Jakarta leben Abermillionen verarmter Landarbeiter, die in die bereits überfüllten Städte drängen werden. So beträgt das Bevölkerungswachstum in manchen Stadtrandsiedlungen von Jakarta bis zu 18 Prozent im Jahr.Die Armen in den Städten der Ersten wie der Dritten Welt leiden nicht nur häufiger an Infektionen, sondern auch an »Zivilisationskrankheiten« wie Herzleiden und Krebs, die nur vermeintlich mit einem üppigeren Lebensstil einhergehen. In der philippinischen Hauptstadt Manila liegt die Sterblichkeitsrate für Kleinkinder in den Slums dreimal und ihre Infektionsrate bei Tuberkulose gar neunmal höher als in der übrigen Stadt.Die Kriminalität liegt in allen Großstädten wesentlich höher als in den umgebenden ländlichen Regionen. Extreme Verhältnisse herrschen im brasilianischen Sao Paulo: 86 Prozent aller Todesfälle bei männlichen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren gehen auf Gewalteinwirkung zurück, vor allem Mord und Totschlag; bei fünf- bis 14-jährigen Jungen liegt dieser Wert bei mehr als 50 Prozent.Ethnisch motivierte Konflikte — »Rassenkrawalle« — sind nicht nur auf amerikanische Vielvölkermetropolen wie Los Angeles (Watts 1965 und South Central 1992) beschränkt. Sie brechen auch in multikulturellen Megastädten wie London und Paris aus, wo sich — zum Beispiel — die Söhne karibischer oder nordafrikanischer Einwanderer immer wieder Straßenschlachten mit der Polizei liefern. Solche Gewaltaktionen entladen sich häufig in der Folge von Wirtschaftskrisen — so etwa in Jakarta, als Anfang 1998 ein javanischer Mob vor allem die Geschäfte der chinesischen Minderheit plünderte und brandschatzte. Und sie verschonen auch nicht die urbanen Zentren Indiens, wo — zum Beispiel — fanatische Hindus Moscheen der islamischen Minderheit zerstören.Der unersättliche Landhunger der MegastädteDer Landverbrauch von Ballungsräumen nimmt gigantische Ausmaße an. Haus- und Verkehrsbauten versiegeln den Boden, und zwar meist zuvor fruchtbares Agrarland. Der Stadtkern von Sao Paulo wuchs seit 1930 von 180 Quadratkilometern auf die heutige Fläche von rund 1000 Quadratkilometern. Das entspricht fast der doppelten Fläche des Bodensees. Der Ballungsraum von Sao Paulo erstreckt sich gar über 8000 Quadratkilometer — der zehnfachen Fläche Berlins.Insgesamt überwuchern die rasch anschwellenden Städte in den Entwicklungsländern jährlich fast eine halbe Million Hektar. Aber auch in den USA, wo das städtische Bevölkerungswachstum nur noch 1,3 Prozent pro Jahr beträgt, ist der urbane Landhunger ungebrochen: 1982 waren 21 Millionen Hektar unter Beton und Asphalt versiegelt, zehn Jahre später waren es bereits 24 Prozent mehr, nämlich 26 Millionen Hektar. Denn mit wachsendem Wohlstand steigt auch der private und gewerbliche Raumbedarf pro Einwohner an — in Boston ebenso wie in Berlin oder Peking.Lärm plagt alle Metropolen. Was für Touristen auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings, in 320 Meter Höhe, als energiegeladenes Brummen und Summen der Weltstadt New York ankommt, bereitet den Einwohnern schlaflose Nächte. Extremer Krach herrscht in den Straßen der Drittweltmetropolen. In Kairo, eine der lautesten Städte der Erde, verhängten die Behörden 1998 ein Hupverbot, an das sich allerdings kaum jemand hält. So liegt der Lärmpegel an den meistbefahrenen Plätzen der Stadt bei 105 Dezibel — weit über dem, was dem Gehör und der Gesundheit auf Dauer zuträglich ist. Zum Vergleich: In Deutschland gilt als Tageslimit für Industriegebiete ein Wert von 65 Dezibel, wobei sich der Lärm pro zehn Dezibel mehr jeweils verdoppelt.Verkehrsstaus sind längst nicht mehr auf die Metropolen westlicher Industrienationen beschränkt. Die jährlichen Kosten für im Stau verplemperte Zeit betrugen Mitte der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts in Hongkong etwa 300 Millionen US-Dollar, in Seoul gut 150 und in Jakarta rund 70 Millionen. Der wirtschaftliche Schaden im chronisch verstopften Bangkok — mehr als 270 Millionen Dollar — entspricht 2,1 Prozent des thailändischen Bruttosozialprodukts. So lag in Bangkok die Durchschnittsgeschwindigkeit für Autos bereits Ende der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts bei nur noch zwei Kilometer pro Stunde; ein Pkw steht dort, statistisch gesehen, 44 Tage pro Jahr im Stau.Der Smog nahm Ende Mai 1998 in Mexico-City nach zusätzlichen Waldbränden in der Umgebung ein solches Ausmaß an, dass die Stadtverwaltung 40 Prozent der rund dreieinhalb Millionen Autos mit einem Fahrverbot belegte und vor jeglicher anstrengenden körperlichen Tätigkeit im Freien warnte. Der besonders smoggeplagte kalifornische Großraum Los Angeles — ein Meer von Vorstädten mit zusammen gut 16 Millionen Einwohnern, davon 3,5 Millionen im eigentlichen Stadtgebiet von L.A. — versucht, dem Problem mit strengen Abgasvorschriften vor allem für die gut zehn Millionen Autos beizukommen: 1989 hat die südkalifornische Luftqualitätsbehörde einen Dreistufenplan beschlossen, mit dem bis zum Jahr 2007 die Luftbelastung wenigstens so weit gesenkt werden soll, dass sie den allgemeinen US-Grenzwerten entspricht. 1988 ist dieses Limit an 232 Tagen überschritten worden.Das Treibhausgas Kohlendioxid (CO2) wird in umso größeren Mengen freigesetzt, je wohlhabender die Städter sind. Die Armen mit weniger als 3000 Dollar Jahreseinkommen steuern so gut wie nichts zum Treibhauseffekt bei, da sie sich nur wenig Brennstoffe leisten können und meist regenerierbare — also klimaneutrale — Brennmaterialien wie Holz oder getrockneten Kuhdung verfeuern. Bei durchschnittlich 10000 Dollar Jahreseinkommen erreicht der CO2-Jahresausstoß pro Kopf knapp zwei Tonnen, bei 50000 Dollar schon 16 Tonnen. Die urbane Lebensweise trägt dabei entscheidend zum globalen Treibhauseffekt bei.Die Luftverschmutzung betrifft Städter je nach verfügbarem Einkommen in allen Ländern sehr unterschiedlich, berichtet die Weltbank. Einwohner mit weniger als 500 US-Dollar Jahreseinkommen sind im Schnitt einer Staubbelastung von mehr als 1700 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft ausgesetzt. Ab 10000 Dollar Jahreseinkommen sinkt die Staubbelastung auf nahezu null. Bei der Schwefeldioxidbelastung, die vor allem von schwefelhaltigen Brennstoffen wie Braunkohle verursacht wird, sind die ganz Armen und ganz Reichen weniger belastet als der Mittelstand: Städter mit einem Einkommen von weniger als 100 oder mehr als 50000 Dollar pro Jahr atmen im Schnitt zehn Mikrogramm Schwefeldioxid pro Kubikmeter Luft ein, während ihre mittelständischen Nachbarn mit mehreren tausend Dollar Jahreseinkommen fünfmal höheren Schwefeldioxidkonzentrationen ausgesetzt sind. Ein Einwohner Delhis atmet im Tagesdurchschnitt ebenso viele giftige Schadstoffe aus Abgasen von Motorfahrzeugen ein, wie wenn er 20 Zigaretten rauchen würde.Naturkatastrophen und Seuchen treffen Städte besonders hartDie Müllberge wachsen in allen Städten der Welt erwartungsgemäß mit dem verfügbaren Einkommen: Bei 100 Dollar pro Kopf und Jahr fallen rund 100 kg Hausmüll jährlich an. Bei 10000 Dollar sind es knapp 400 kg und bei 50000 Dollar etwa 600 kg. Ein Durchschnittsbürger von Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, produziert rund 200 kg Müll pro Jahr, ein Einwohner von Sao Paulo gut 350 kg und ein Bewohner der US-Hauptstadt Washington beeindruckende 1250 kg.Naturkatastrophen bedrohen zunehmend mehr Bewohner von Ballungsräumen. Das Risiko, bei Wirbelstürmen oder Überflutungen, Erdrutschen oder Erdbeben Haus, Gesundheit oder gar das Leben zu verlieren, wächst für die Bewohner von Megastädten überproportional an. Der einfachste Grund dafür ist die Bevölkerungsexplosion in den Ballungsgebieten. Hinzu kommt, dass die meisten Metropolen aus historischen Gründen an Küsten oder großen Flüssen liegen, wo Stürme und Fluten schweres Unheil anrichten können.In den USA, wo die Hälfte der Bevölkerung an oder nahe der Küste lebt, verzeichnen die besonders von Hurrikans gefährdeten Bundesstaaten Florida und Texas die größte Zuwanderung. Vor allem der befürchtete Anstieg des Meeresspiegels durch die vom Menschen verursachte Erwärmung des Erdklimas, den »Treibhauseffekt«, gefährdet Megastädte wie Tokio, Schanghai und Bangkok, Dhaka, Bombay und Lagos, London, New York und Buenos Aires. Im dicht besiedelten, extrem von Fluten bedrohten Gangesdelta südlich von Dhaka starben 1991 bei einem Zyklon 140000 Menschen.Erdbeben töteten 1923 in Tokio 123000 Menschen, 1976 in der nordchinesischen Millionenstadt Tangshan sogar rund 640000 Menschen. Trotz moderner »erdbebensicherer« Bauten starben 1985 in Mexico-City rund 5500 Bürger in den Trümmern ihrer Häuser, 1999 östlich von Istanbul etwa 17000. Stark erdbebengefährdet sind auch Metropolen wie Kairo und Teheran, Karatschi, Peking und Jakarta, Santiago de Chile und Lima.Für Seuchen sind übervölkerte tropische Metropolen ideale Brutstätten. Mangelnde Hygiene vor allem in Slums fördert Durchfallerkrankungen (Diarrhö); nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben daran jährlich weit mehr als drei Millionen Kinder vor dem fünften Geburtstag. Die Cholera forderte 1991 in Peru und wenig später in Bangladesch und Indien Tausende von Opfern. Aber auch die Migration von Menschen auf Arbeitssuche, der Tourismus und der Geschäftsreiseverkehr schaffen Infektionswege über Kontinente hinweg. Lockerer Lebenswandel erleichtert die Ausbreitung sexuell übertragbarer Infektionskrankheiten von der Gonorrhö bis zu Aids. Resistenzentwicklungen der Erreger machen mit wachsender Geschwindigkeit Impfstoffe, Antibiotika und Antimalariamittel unwirksam — und diese Entwicklung betrifft auch die Metropolen der reichen Industrieländer. So kehrt die besiegt geglaubte Tuberkulose (Tb) mit Macht zurück: Ein Drittel der Menschheit ist mit dem Tuberkelbazillus latent infiziert, rund 20 Millionen sind an Tb erkrankt, mehr als drei Millionen sterben jährlich daran. Besonders in den Städten der ehemaligen Sowjetunion und in New York treten seit Beginn der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts vermehrt Erreger auf, die gegen herkömmliche Antibiotika resistent sind.Die lange Tradition der PessimistenAngesichts dieser — nahezu beliebig verlängerbaren — Negativliste können die Kassandrarufe vor der urbanen Selbstzerstörung nicht verwundern. Zumal sie im Westen auf eine weit in die Vergangenheit reichende Tradition zurückgehen: Sie klingen im 18. Jahrhundert beim französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau an (»große Städte entziehen dem Staat die Lebenssäfte«), durchziehen die gesellschaftskritischen Romane von Charles Dickens im 19. Jahrhundert und prägen die Schriften des deutschen Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich (»Die Unwirtlichkeit unserer Städte«) in der Mitte des 20. Jahrhunderts.Neue Schubkraft bekommt diese sozialpolitisch motivierte Kritik seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts durch die Umweltbewegung. Städter, so rechnen Umweltschützer vor, verbrauchen im Schnitt mehr Rohstoffe und Energie als Dorfbewohner. Sie reisen mehr, essen mehr hochwertige Nahrungsmittel, vor allem tierischer Herkunft, und sie nehmen sich mehr soziale und kulturelle Freiheiten heraus. Dies summiert sich zu einem immensen Appetit auf Wasser und Lebensmittel, Rohstoffe und Energie, die aus immer größerer Entfernung herangeschafft werden. Zugleich breiten sich Siedlungsflächen und Verkehrswege ins Umland aus. Luft- und Wasserverschmutzung, Abfallberge und Bodenversiegelung sind die ökologischen Folgen, kulturelle Entwurzelung, steigende Immobilienpreise und höhere Kriminalität die sozialen.Diese Kritik zielt im Kern auf die westliche Zivilisation (von lateinisch civis für Bürger, Städter). Denn deren technische, aber auch soziale Errungenschaften ermöglichten erst das Entstehen der Megastädte. So zwingend klangen und klingen die Argumente gegen das massenhafte Zusammenballen von Menschen, dass Frank Lloyd Wright, der berühmteste US-Architekt des 20. Jahrhunderts, schon 1923 feststellte, »die Großstadt ist nicht mehr modern«. Und noch 1997 betitelte der New Yorker Geschichtsprofessor Fred Siegel ein Buch über »das Schicksal von Amerikas großen Städten« mit »The future once happened here«: Metropolen wie New York oder Los Angeles hätten ihre Zukunft bereits hinter sich.Seltsam ist nur, dass sich das Gros der Menschheit im 20. Jahrhundert nicht an Frank Lloyd Wrights Verdikt halten wollte. Leben doch an der Wende zum neuen Jahrtausend mehr Menschen in Städten als seinerzeit auf dem gesamten Planeten — die antiurbane Rhetorik sozial und ökologisch engagierter Intellektueller sowie Konservativer, die um ihre hohe Lebensqualität bangen, befindet sich in auffälliger Diskrepanz zur Realität. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Was macht die Megastädte so attraktiv?Push ' PullPush and pull« — drücken und ziehen — nennen amerikanische Stadtforscher die beiden wichtigsten Mechanismen, die für den Zuzug in die Metropolen sorgen: zum einen der Druck unzureichender Lebensverhältnisse, der viele Landbewohner in die Stadt treibt, zum anderen die Anziehungskraft der urbanen Möglichkeiten, die diese auf die Tüchtigen und Abenteuerlustigen ausüben.Die Ballungsräume der Industrienationen haben den größten »push« schon lange hinter sich. Die Landflucht, die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Millionen von Bauern, Knechten und Mägden aus den Dörfern trieb, ist so gut wie abgeschlossen. Heute leben mehr als drei Viertel der Bevölkerung in den USA und Kanada, in Westeuropa und Australien, in Japan und auch schon in Brasilien in Städten. In Afrika und Asien hingegen, wo die Landflucht erst in jüngster Zeit voll eingesetzt hat, wohnen zum Ende des 20. Jahrhunderts noch etwa zwei Drittel der Menschen auf dem Land. Die meisten von ihnen können in der zusehends mechanisierten Landwirtschaft nicht überleben. Sie fliehen vor der Hoffnungslosigkeit, der Armut und mitunter auch der Leibeigenschaft ebenso wie vor der schlechten medizinischen und kulturellen Versorgung.Allein für Asien rechnen UN-Experten, dass die Stadtbevölkerung bis 2025 um 1,5 Milliarden Menschen zunimmt. Ein Teil dieser größten Völkerwanderung aller Zeiten wird auch in die reichen Metropolen schwappen — nach Berlin und Paris, nach New York und Los Angeles und womöglich sogar nach Tokio. Dort werden die Migranten die Chinatowns und indischen Viertel, die ägyptischen, karibischen und brasilianischen Gemeinden weiter anschwellen lassen.Den größten »pull« üben Städte schlicht durch die vielen Möglichkeiten aus, die sie bieten. Sie verkörpern, wie es in dem Berichtsband »World Resources 1996—97: The Urban Environment« heißt, »die Vielfalt und Energie menschlichen Strebens. Sie sind bemerkenswerte Motoren des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts. Städte bieten Beschäftigungsmöglichkeiten, Unterhaltung und sonstige Annehmlichkeiten sowie. .. Vorzüge bei Bildung, Gesundheit und anderen sozialen Dienstleistungen. Im Durchschnitt verfügen Städter über höheres Einkommen und genießen ein gesünderes, leichteres Leben als ihre ländlichen Mitbürger, obwohl diese Vorteile oft nicht allen Stadtbewohnern zugute kommen.«Die Statistiken der Vereinten Nationen zeichnen ein anderes, wesentlich weniger pessimistisches Bild vom städtischen Leben als die Schlagzeilen der Massenmedien. Manche vermeintlich »typisch urbanen« Nachteile erweisen sich in Wirklichkeit als Folge von Problemen, die ihren Ursprung im ländlichen Raum haben — etwa das städtische Bevölkerungswachstum und die Armut, die erst durch Zuwanderung entsteht. Die folgenden Fakten rücken die tatsächlichen Relationen zwischen städtischen und ländlichen Lebensbedingungen vor allem in den Entwicklungsländern zurecht.Die vielen Vorteile des StadtlebensDas Alter der städtischen Bevölkerung liegt im Durchschnitt höher als auf dem Land. Vor allem die Verstädterung trägt dazu bei, dass nach Hochrechnungen der Vereinten Nationen der Prozentsatz der über 65 Jahre alten Menschen von heute gut sechs Prozent der Gesamtbevölkerung auf rund 20 Prozent im Jahr 2050 ansteigen wird — von derzeit 350 Millionen auf 2,5 Milliarden. Allein der durch diese veränderte Altersstruktur nötige zusätzliche Nahrungsbedarf wäre dann weltweit so groß, als müsste ein weiteres 120-Millionen-Einwohner-Land wie Bangladesch versorgt werden.Hinzu kommt, dass sich die Ernährungsgewohnheiten wandeln, wenn Menschen vom Land in die Stadt ziehen: Städter verzehren generell mehr hochwertige Nahrung vor allem tierischen Ursprungs. Heute konsumiert ein Chinese im Schnitt ein Kilogramm Rindfleisch pro Jahr, ein Durchschnittsamerikaner hingegen 42. In Südkorea stieg der Bedarf an Futtergetreide zum Mästen von Schlachttieren im Zug der Industrialisierung und Verstädterung von wenigen Kilogramm pro Kopf und Jahr auf knapp unter 150 Kilogramm Anfang der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts; dort verharrt der Bedarf trotz weiter wachsendem Einkommen.Das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land ist vor allem in Entwicklungsländern groß. In Kenia zum Beispiel hatten im Jahr 1993 von den über sechs Jahre alten weiblichen Mitgliedern städtischer Haushalte 13,5 % keine Schulbildung, auf dem Land betrug die Quote 29,1 %; von den über sechs Jahre alten männlichen Mitgliedern städtischer Haushalte hatten 7 % keine Schulbildung, auf dem Land waren es 18,2 %.Die Wirtschaftskraft der Ballungsräume in Entwicklungsländern beträgt rund 60 % des Bruttosozialprodukts, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt aber nur rund ein Drittel. Das Einkommen von armen Migranten, die vom Land in die indische Hauptstadt New Delhi wandern, liegt zweieinhalbmal höher als in ihrem Heimatdorf. Das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land in Entwicklungsländern illustriert das Beispiel Kenia: Von den städtischen Haushalten besaßen im Jahr 1993 fast 68 % ein Radiogerät (ländliche Haushalte: 48 %), gut 42 % waren ans Elektrizitätsnetz angeschlossen (auf dem Land: etwas mehr als 3 %), fast 56 % verfügten über fließendes Wasser (auf dem Land: knapp 11 %). Der Zugang zu sauberem Trinkwasser hängt dabei weltweit vom verfügbaren Einkommen ab. Nach einem Bericht der Weltbank steht nur wenigen Prozent der Städter mit einem Pro-Kopf-Jahreseinkommen von 100 US-Dollar sauberes Wasser zur Verfügung. Bei einem 1000-Dollar-Jahreseinkommen schnellt der Trinkwasserzugang auf 50 % hoch, bei 10000 Dollar Einkommen pro Jahr liegt er dann bereits über 90 %.Auch das Gesundheitsgefälle zwischen Stadt und Land ist in Entwicklungsländern sehr groß. In Kenia waren zum Beispiel im Jahr 1993 knapp 13 % der Stadtkinder untergewichtig, auf dem Land waren es 23,5 %; bei der Geburt erhielten fast 78 % der Gebärenden in der Stadt fachkundige medizinische Hilfe, auf dem Land betrug deren Anteil demgegenüber nur 39 %. Ähnlich verhält es sich mit der Kindersterblichkeit in Entwicklungsländern: Im Beobachtungszeitraum 1991—1994 starben in Kenia von je 1000 lebend geborenen Kindern bis zum fünften Lebensjahr in der Stadt durchschnittlich 75, auf dem Land 96; in Bolivien starben in der Stadt 104, auf dem Land 162 Kinder; in Bangladesch lauteten die Vergleichszahlen 114 von 1000 Kindern in der Stadt und 153 auf dem Land.Die Telekommunikation wächst in Megastädten schneller als anderswo. Radios und Fernsehgeräte dröhnen selbst in den Slums von Bombay. Mobilfunktelefone — »Handys« — machen die wirtschaftlichen Eliten, aber auch die rasch wachsende urbane Mittelklasse vom meist überlasteten, unzuverlässigen Festnetz der Drittweltmetropolen unabhängig. Und das World Wide Web (WWW) ist in Bangkok oder Sao Paulo schon fast so selbstverständlich wie in New York. Die neuen Kommunikationstechniken, gepaart mit der allgemeinen Elektronisierung, verändern nahezu alle Aspekte der künftigen städtischen Entwicklung — von den architektonischen Anforderungen an neue Bürogebäude bis hin zu multimodalen, Auto und Bahn umfassenden Verkehrsleitsystemen.Städte sind sich selbst verändernde OrganismenSelbstverständlich wirken sich urbane Vor- und Nachteile in den Wirtschaftsregionen der Erde unterschiedlich aus. Auch innerhalb einer Stadt gibt es gewaltige Diskrepanzen — je nachdem, ob jemand in einem schicken Wohnviertel mit funktionierender Infrastruktur lebt oder in einem Slum aus Wellblech und Pappe. Außerdem ist jede Stadt ein höchst individuelles, einmaliges, in seiner Komplexität unwiederholbares Gebilde. Die Stadt ist kein technisches Konstrukt, das von einem Ingenieur oder Architekten ersonnen und einem Bürgermeister maschinistengleich in Betrieb gehalten wird. Vielmehr ist jede Stadt ein dynamisch sich selbst verändernder Organismus aus mitunter vielen Millionen Menschen, die vor allem eines anstreben — ein besseres Leben.Günter HaafWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Stadt: Prognosen zur qualitativen EntwicklungGrundlegende Informationen finden Sie unter:Megastädte: Ausufernde Ballungsgebiete auf dem VormarschFrühe Stadtkulturen, herausgegeben von Wolfram Hoepfner. Heidelberg u. a. 1997.Leben in der Stadt. Lust oder Frust, bearbeitet von Stephan Burgdorff. Hamburg 1998.Sassen, Saskia: The global city. New York, London, Tokyo. Princeton, N. J., 1991.Zeiten der Stadt. Reflexionen und Materialien zu einem gesellschaftlichen Gestaltungsfeld, herausgegeben von Ulrich Mückenberger. Bremen 1998.
Universal-Lexikon. 2012.